Reise zum Mittelpunkt der … ja, was eigentlich? Der Erde garantiert nicht. Also, neuer Versuch: Reise zum Arsch der Welt. Ja, das geht.
So.
Mittwoch, 12.08.2020. Irgendwann gegen 9:30 Uhr brüllt Inky zum Wiederholten Male „Habt ihr’s endlich?“ durch die Wohnung. Sie ist so lieb und fährt uns zum Flughafen. Mama lässt mich nicht aus den Augen. Sie steht immer so, dass sie mich im Blick behält und immer, wenn ich die Hände gerade frei habe, werde ich geknuddelt und geherzt. Eindringlich erinnert sie mich am laufenden Meter daran, dass wir bitte ja aufeinander aufpassen und heil wiederkommen sollen. Ich nicke artig und stiefel weiter Tino hinterher. „Schatz, hast du jetzt endlich alles? Handy? Portemonnaies? Asthmaspray? Surfy? Ladekabel? Polaroid?“
Während ich hinterherlaufe, zähle ich wahllos weitere Objekte auf, die an sich nett sind, aber Hand auf’s Herz: Nicht zwingend notwendig. Und plötzlich ist es soweit: Es kann losgehen. Fast schockiert stellen wir fest, dass wir alles beisammen haben und dem Aufbruch nichts mehr im Wege steht. Joa, gut. Das war ja auch Sinn und Zweck der Aktion. Na denn mal los!
Tino erinnert mich quengelig daran, dass ich mich noch von Feivel verabschieden muss. Er weiß eigentlich, wie ich dazu stehe, aber nun gut. Ich gucke dabei zu, wie Tino ihn durchflauscht, während Feivelchen sich streckt und erinnere mich daran zurück, dass Feivel und ich unser „Abschiedgespräch“ schon hatten. Tino guckt mich erwartungsvoll an, Feivel auch. Och Mann, den beiden kann ich echt nicht widerstehen! Also auf die Knie mit mir und meinen Hund gedrückt! Ich nehme sein wunderhübsches Gesicht in die Hände und sehe ihn eindringlich an. „Ich hab dich lieb und du bist der beste Hund der Welt!“, wiederhole ich meine Worte von vor ein paar Tagen. „Sei brav und hör auf Mama. Ich werde dich vermissen.“ Ich drücke ihm einen Schmatzer auf seine Stirn und nehme noch mal einen tiefen Atemzug, um seinen Geruch in mich aufzusaugen. Beim Hinausgehen klemme ich mir den Blick zurück über die Schulter. Ich befürchte, dann heule ich, wenn ich nochmal seine großen Knopfaugen sehe, die mich angucken, als würde ich nie wiederkommen.
Inky fährt uns zielstrebig durch die Straßen Berlins. Wir plaudern über Belanglosigkeiten und Inky spielt laut mit dem Gedanken, sich auch mal Urlaub zu gönnen und uns vielleicht besuchen zu kommen. Von mir aus gerne! Aber der Last-Minute-Preis hält sie wohl davon ab … Wir geraten in einen Stau und Quengel-Tino auf dem Rücksitz fängt an, Panik zu schieben, dass wir unseren Flug verpassen. Ich muss grinsen. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass wir noch ausreichend Zeit haben. Das „ist mir noch nie passiert“ klemme ich mir allerdings mit einer reumütigen Erinnerung an die Geschichte mit Mama in München. War aber WIRKLICH nicht meine Schuld! Egal.
Tatsächlich kommen wir pünktlich am Flughafen an – welch Überraschung – und wuseln uns samt Maske durch die Sicherheitskontrolle. Wie nicht anders zu erwarten, sehe ich mal wieder viel zu unschuldig aus oder so. Keine Ahnung. Jedenfalls wird vom Inneren meines Koffers – mal wieder – ein Abstrichtest auf Drogen gemacht. Wundervoll. Ergebnis? Ich transportiere keine Drogen! Wow. Welche Erkenntnis. Tatsächlich beobachte ich das Spektakel aber jedes Mal auf’s neue sehr interessiert. Bin immer ein bisschen neugierig. Was passiert wohl, wenn jemals etwas anderes dabei herauskommt? Kurz spiele ich mit dem Gedanken, als erste Antwort auf ein „Transportieren Sie Drogen?“ mit „Boah Tino, wir haben die Koffer vertauscht!“ zu reagieren. Aber vermutlich haut er mich dann. Sehr doll. Und dann redet er nicht mehr mit mir. Gott sei Dank muss ich mich dieser Situation aber nicht stellen und so schlurfen Tino und ich zu unserem Gate.
Mit Essen und wiederaufgefüllter Wasserflasche sitzen wir und warten auf das Boarding. Wir haben äußerst gut aussehende, belegte Brote für teuer Geld erstanden. Mein Tomate-Mozzarella-Baguette war erstaunlich trocken. Aber egal. Schmeckt und füllt den Magen.
Keine 20 Minuten später sitzen wir endlich im Flieger und freuen uns darauf, dass es endlich losgeht. Die Sicherheitseinweisung fällt so langweilig aus wie eh und je. Allerdings ist der gesamte Flieger sichtlich erheitert, als der Chef-Steward ins Mikro nuschelt, dass wir unsere Masken im Falle eines Druckverlustes absetzten dürfen, ehe wir die Sauerstoffmasken aufsetzen. Find ich nett. Denn nach nicht mal 5 Minuten weiß ich schon, dass mich der obligatorische Mund-Nasen-Schutz kolossal stören wird. Was kann man dagegen machen? Richtig! Flug einfach verschlafen.
Mit diesem brillanten Plan im Hinterkopf beobachte ich den Start und wie wir uns von unserer Heimat entfernen. Ein bisschen Wehmut erfasst mich dabei schon. Diese Stadt gehört irgendwie zu mir und es fühlt sich jedes Mal komisch an, zuzusehen, wie ich mich davon entferne. Ich liebe Berlin. Wirklich. Das ist in meinen Augen die coolste Stadt der Welt und ich kann mir wirklich nur schwer vorstellen, mich jemals woanders so dermaßen heimisch zu fühlen. Berlin hat ja auch den Vorteil, dass es praktisch die ganze Welt in sich vereint. Wirklich Fernweh kommt da eigentlich nicht auf. Naja, es sei denn, man ist so geil auf neue Erfahrungen wie Tino und ich …
Die Stadt schrumpft vor meinen Augen und ich sehe praktisch dabei zu, wie die Hitze darüber steht. Während ich gedankenverloren aus dem Fenster sehe, kuschelt sich Tino von der Seite an mich und beginnt, wegzupennen. Seine Initiative ist ansteckend, also tue ich es ihm gleich. Mein Atem wird flach und ich habe das Gefühl, unter meiner Maske staut sich das CO2. Aber das kann beim Einschlafen nur hilfreich sein, denke ich mir.
Als ich anderthalb Stunden später wieder aufwache, bin ich mir ziemlich sicher, dass ich mir meinen Nacken irgendwie ausgerenkt habe. Ich hab es nämlich hinbekommen, mit hängendem Kopf zu pennen. Ganz großes Kino …
Vorsichtig bringe ich mich in eine andere Position und schlafe weiter. Insgesamt schaffe ich es, fast 4 der 5 Stunden Flugzeit zu verschlafen und klopfe mir dafür insgeheim auf die Schulter. Die letzte dreiviertel Stunde schaue ich gebannt aus dem Fenster und beobachte die unendlichen Weiten des Ozeans unter uns. Hin und wieder entdecke ich ein winzig kleines Containerschiff, aber sonst bleibt alles blau. Blau unter uns, blau über uns und knapp unter uns die Wolken. Das ist rein optisch auch die einzige Möglichkeit, sich zu orientieren, was oben und was unten ist. Sonst gibt es nämlich weit und breit nichts, woran man das festmachen könnte.
Kurz bin ich noch mal angespannt, als wir endlich aufsetzen, dann dürfen wir auch schon aussteigen. Ein bisschen schäme ich mich wieder für meine Landsleute, die man an ihrem enthusiastischen Klatschen bei der Landung erkennt. Wegen Corona sollen die Leute im Flieger bitte Reihe für Reihe aussteigen. Jeder erst, wenn die Leute aus der Reihe davor das Flugzeug verlassen. Klappt so gut, wie es klingt. Nämlich gar nicht. Kaum stehen die ersten Leute auf, springen beinahe alle auf und kramen hektisch nach ihren Koffern. Als würde die einer aus der Handgepäckablage klauen, wenn man nicht schnell genug ist. Tino und ich bleiben brav und ruhig sitzen. Uns hetzt ja nichts. Und dieser Gedanke ist zutiefst befreiend.
Als wir das Flughafengebäude vom Rollfeld aus betreten, präsentiert sich uns ein improvisiertes Nadelöhr, durch das alle Passagiere durch müssen. Ich sehe einen Haufen Leute mit Kittel, Warnweste und Mundschutz. Computer, Papiere und Tische zum Ausfüllen. Ich ahne schon, was jetzt kommt. Das wird dann wohl die angekündigte Kontrolle sein! Zum Bereisen von Spanien – wozu Gran Canaria ja gehört – mussten wir vorab ein Formular ausfüllen, in dem wir angeben, dass wir gesund sind, wo wir wohnen, wo wir unterkommen, wie wir erreichbar sind und in dem wir uns verpflichten, der Gesundheitsbehörde im Falle von Corona-Symptomen Bescheid zu geben. Ich nehme stark an, den daraufhin generierten QR-Code wollen die hier jetzt sehen.
Also zücke ich mein Handy – Frau von heute hat ja alles online und digital – und zerre Tino hinter mir her zur Schlange. Ich rechne schon mit allem: Temperaturkontrolle, spanenglisches Gesundheitsverhör, 300 Blatt bürokratischer Alptraum, Taschenkontrolle, Prostatacheck.
Innerlich gewappnet gucke ich dann allerdings blöd aus der Wäsche, als ich plötzlich durch bin und niemand etwas von mir wollte, als diesen komischen QR-Code zu scannen. Plötzlich stehe ich da, völlig problemlos durchgewunken und fühle mich merkwürdig. Bei so wenig Aufstand und unbürokratischem Vorgehen, ist das Kartoffelkind in mir immer etwas beleidigt. Als wäre es nicht ernst genommen worden, weil es nirgends unterschreiben durfte. Merkwürdig.
Und während dieses anerzogen Urdeutsche in mir rebelliert, weil es jetzt unbedingt ein Formular ausfüllen will, rebelliert der Genussmensch in mir, weil er endlich gerne eine Zigarette hätte. Ich kriege die beiden kaum gehändelt. Also stelle ich mich kurz hin, atme tief durch und tue das einzig richtige: Ich pampe Tino an.
Richtige Heldenaktion, Michi.
Tino ist entsprechend beleidigt, aber das ist mir in diesem Moment pupewurst. Ich sehe vor dem Ausgang einen Laden mit Tabakwaren. Alle guten Vorsätze bezüglich der Rauchfreiheit werden kurzentschlossen von mir über Bord geworfen und ich gehe rein. Hammer! Eine Stange PallMall für 27 Euro. In Deutschland kostet die knapp über 50. Aber meine Selbstbeherrschung reicht soweit, dass ich mich davon losreiße. Ich werde mir jetzt hier keine ganze Stange kaufen. Dann könnte ich mit dem Rauchen genau so gut einfach weitermachen. Also wieder raus, Tino weiter angepampt und auf die Suche nach den Bushaltestellen machen.
Während ich ungenießbar für Tino bin, versucht er, meine Laune irgendwie aufzufangen. Das macht es aber blöderweise nur schlimmer und ab einem gewissen Punkt ist er genauso zickig wie ich. Perfekt! So müssen Flitterwochen beginnen, oder?
Wir suchen und finden irgendwann die Bushaltestelle und verstehen nur Bahnhof. Ausschlussverfahren sei dank finden wir aber endlich die Stelle, wo wir theoretisch warten müssen und schmoren in der Sonne fernab jedes Schattens während uns gleichzeitig ein unheimlich starker, aber nicht sonderlich kalter Wind um die Ohren weht. Als der Bus endlich kommt, verfrachtet Tino unsere Koffer in den dafür vorgesehenen Kofferraum – wie bei Reisebussen – und ich versuche dem Busfahrer verständlich zu machen, wo wir hin wollen. Er nickt, ich zeige, dass wir zu zweit sind und er nuschelt mir irgendwas von 5 Euro auf Spanisch zu. Ich möchte ihm schon einen Schein hinhalten, da ist er schneller und hält mir ein Kartenlesegerät hin. Mist, elender. Ich gucke mich panisch nach meinem Finanzberater um, der Gott sei Dank schnell schaltet und mir seine Karte reicht. Ich halte sie ran, es piept, wir kriegen ein Ticket für zwei Personen und wir setzen uns hin.
Während wir im Bus sitzen, stelle ich mehrerlei Dinge fest:
- Der Fahrer ballert mit einem Affentempo durch die Gegend und nimmt auch die Kurven so schnell. Das Fahrverhalten ist – gelinde gesagt – sportlich und ich halte das Tino gegenüber auch laut fest: „Ich fühle mich nicht sicher in diesem Bus.“
Tinos Lächeln soll wohl beruhigend sein, aber ich schwöre, der Penner macht sich insgeheim über mich lustig.
- Tinos und meine Laune sind gerade so niedrig unterwegs wie sonst nur unser Niveau. Supi. Kann ja noch heiter werden. Ich versuche krampfhaft, keinen Streit vom Zaun zu brechen. Warum ich das eigentlich will, weiß ich selber nicht. Aber ich würde ihn gerade schrecklich gerne als Ventil nutzen. Da er allerdings ähnlich drauf ist wie ich, halte ich mich zurück. Wenn er zurückschießt, wird es nämlich immer reichlich unangenehm für mich.
- Gran Canaria sieht irgendwie sehr trocken aus. Und runtergekommen. Ich habe jetzt auch nicht wirklich damit gerechnet, dass es hier aussieht wie New York, aber ganz so viel bulgarische Optik habe ich auch nicht erwartet. Fehlen nur noch ein paar Wellblechhütten. Die Häuser stehen dicht an dicht und zwischen solchen Häuserblocks sind teilweise kilometerweise Lücken. Die Gebäude sehen runtergekommen aus. Balkons sind eine echte Rarität. Dafür blättert an jedem Haus irgendwo die Farbe ab. Bauruinen gibt es auch eine Menge.
- Ich schwimme mittlerweile in meiner Maske. Der Bus ist zwar klimatisiert, aber unter dem dicken Stück Stoff schwitze ich und meine Haut fühlt sich widerlich ölig an.
- Der Busfahrer hält an jeder Station maximal 10 Sekunden. Türen auf, Leute raus, losgefahren. Ja, OHNE die Türen vorher wieder zu schließen. Tino und mich beschleicht insgeheim leise Panik, ob wir unsere Koffer so schnell eigentlich wiederbekommen, wenn der so hektisch unterwegs ist. Nicht, dass der uns am Ende noch mitsamt Koffern wieder abhaut?
- Ich habe Hunger. Ist meiner Laune nicht wirklich zuträglich. UND ich will eine rauchen. Fuck, und WIE ich eine rauchen will. Ich würde da gerade bereitwillig jemandem wehtun für. Leider klappt das so aber nicht ganz. Wenn das ginge, hätte ich Tino schon fünf Mal gekniffen und mich über die dabei auftauchenden Zigaretten gefreut. Mist, verdammter.
Als wir an unserer Station ankommen, beschließen wir, es dem Busfahrer schwer zu machen. So leicht bekommt der unsere Koffer nicht! Tino steigt aus und sprintet zum Kofferfach. Ich stehe halb bummelnd in der Tür, um zu verhindern, dass der Fahrer einfach losdüst. Dann springe ich schnell raus, flitze zu Tino und wir sehen das erste Mal seit unserer Ankunft so richtig glücklich aus, weil uns dieses Kunststück gelungen ist. Eine tiefe Zufriedenheit macht sich in mir breit bei dem Wissen, dass trotz der momentanen Laune unserer Weltherrschaft nix im Wege steht. Tino ist davon wohl auch etwas beflügelt.
„Bevor wir zu unserer Unterkunft gehen oder sonst irgendwas machen, besorgen wir dir jetzt Zigaretten!“, beschließt er laut und hat wohl seine Entscheidung im Umgang mit meiner Laune getroffen. Ich bewundere seinen Aktionismus. Da ich gerade aber an nichts anderes denken kann, gebe ich bereitwillig die Führung ab und hoffe einfach blind darauf, dass wir schon an einem geeigneten Laden vorbeikommen werden. Keine 200 Meter später ist es dann auch so weit. Eine Tankstelle!
Als ich glücklich grinsend wieder herauskomme und triumphierend meine Schachtel Camel in die Luft halte, guckt Tino immer noch pissig. Er verkündet, dass er erst weiterläuft, wenn ich mir endlich eine anstecke.
Mit jedem Zug hebt sich meine Laune etwas mehr. Tino tut es mir mit Verzögerung gleich. Also seine Laune. Rauchen tut er ja nicht.
Ich gucke mich während des kurzen Fußmarsches interessiert um und stelle fest, dass wir in einer Art asiatischem Viertel gelandet sein müssen. Überall gibt es kleine, asiatische Supermärkte und die eine oder andere kleine Fressbude mit eben derselben Küche. Schneller, als ich damit gerechnet hätte, stehen wir vor unserer Unterkunft.
Eine kleine, weiße Hauseingangstür mit einem Schild „City Rooms“ darüber entlarvt das Gebäude als unser neues Heim für den nächsten Monat. Etwas verwirrt stehen wir davor. Die Tür geht nicht auf. Also klingeln? Es gibt nur einen Knopf und Tino drückt beherzt drauf. Die Stimme aus der Gegensprechanlage ist blechern und schwer zu verstehen. Der Akzent im Englischen macht das Ganze nicht unbedingt besser und ich muss kurz in mich hineinschmunzeln. Die Konversation könnte man prima aufnehmen für den Hörverstehen-Teil in der Englischprüfung zum MSA …
Angestrengt lauschen wir auf das, was die Stimme sagt und raten wild durcheinander, was gemeint sein könnte. Da offenbart sich Tinos und meine größte Problematik: Tinos Englisch ist nicht so gut wie meins. Ich kann das gerade aber nicht kompensieren, weil meine Ohren schlicht nicht so gut sind wie seine. Also? Munteres Raten!
Nach fünf Minuten weiß unser Gegenüber, wer wir sind und teilt uns mit, dass wir unser Zimmer mit der Nummer 232 schon mal beziehen dürfen. Er sei gleich da, dann können wir den Check-In machen.
Wir gehen hinein und finden ein äußerst schmales Treppenhaus vor. Im Erdgeschoss finden wir Räume mit der Anfangsziffer 0. Okay, also weiter.
Wie vermutet, finden sich auf der ersten Etage Räume mit der Anfangsziffer 1, sowie die Rezeption. Allerdings stocke ich hier schon. Die Räume haben die Nummern 101, 102, 103, …
Es sind nicht annähernd genug für eine „-32“ am Ende. Wir steigen hinauf zum zweiten Stock und stehen vor dem vermuteten Problem: Es gibt die Zimmernummern „201“-„205“, eine Küche und ein Bad. Joa … Such, Michi! Tino und ich stehen da, mit Koffern und gucken reichlich blöd aus der Wäsche. Da kann man sich auf den Kopf stellen: Weit und breit kein Zimmer mit der angegebenen Nummer. Wir beschließen, kurz zu warten. Der Typ von der Gegensprechanlage wollte ja eh gleich kommen.
Tut er aber nicht.
Also tue ich, was eine selbstbestimmte Frau halt tut: Ich schicke meinen Kerl runter, damit er noch mal nachfragt. Nach einem lauten Gespräch mit vielen Hä’s kommt Tino wieder hoch und verkündet, wir hätten die Zimmernummer 202. Seine Theorie: ‚Zero‘ und ‚Three‘ klingen (mit Akzent durch eine Gegensprechanlage genuschelt) sehr ähnlich. Ich finde, er hat recht. Zumal mir diese Erklärung lieber ist, als weiter nach einer nicht existenten Zimmernummer zu suchen.
Also rein in die gute Stube! Unser Zimmer ist relativ groß – 15 qm – mit großen Fenstern. An der Decke hängt ein Ventilatorlicht, es gibt zwei zusammengeschobene Einzelbetten mit jeweils einem kleinen Regal als Nachttisch an der Wand. An der Kopfseite der Betten ist die Wand mit einer großen Fototapete vom New Yorker Times Square bezogen. Passend zum Zimmernamen „New York“.
Es gibt einen Kleiderständer zum Aufhängen und ein Metallkleiderschränkchen. Ich weise Tino auf die Ironie hin: Wir haben insgesamt 2,5m Kleiderstange. Also sehr viel. Aber: nur 8 Kleiderbügel. Irgendwie witzig, finden wir. Wir schmeißen uns probehalber auf’s Bett und machen den Deckenventilator an, um seine Kühlkraft zu checken. Passt. Der Ventilator hat Bumms und wird uns einigermaßen abkühlen können. Auch, wenn ich solche Dinger immer etwas gruselig finde. Ich befürchte immer halb, dass die irgendwann von der Decke fallen und mich schnetzeln …
Außerdem gehen meine und Tinos Ansprüche an „Kühlung“ immer ziemlich auseinander. Ich brauche davon deutlich mehr als er. Aber ich hab da schon eine Idee …
Ich packe meinen Koffer aus und schäme mich dabei ein bisschen. Das habe ich noch nie gemacht: Irgendwo ankommen und erstmal auspacken. Fühlt sich widerlich erwachsen an. Aber ich habe irgendwie Bewegungsdrang. Außerdem hab ich jetzt angefangen und beschließe einfach, konsequent weiterzumachen. Kurz, nachdem ich fertig bin, klopft es an der Tür. Der Herr von der Gegensprechanlage steht vor uns. Mit Maske. Wir dackeln ihm hinterher zum Raum, auf dem „Reception“ steht und klären alles. Bezahlung, Putzen, Nutzung der Räumlichkeiten, generelles Rauchverbot, Wäsche waschen. Alles, wie man es sich eben vorstellt. Jetzt möchte ich aber wirklich langsam los und die Gegend erkunden. Außerdem habe ich Hunger. Also drängel ich, damit wir loskommen.
Tino und ich beschließen, in Richtung des großen Strandes zu gehen und uns bei der Gelegenheit umzusehen. Es ist mittlerweile 19 Uhr Ortszeit, in Deutschland wäre es 20 Uhr. Also sollte es nicht weiter wundern, dass ich Hunger habe. Schließlich ist meine letzte Mahlzeit – laut meiner Uhr – fast 8 Stunden her.
Wir ziehen los und gucken uns die Umgebung an. Da hätten wir einen Haufen asiatischer Supermärkte, ein Sushi-Laden, einige Wettbüros …
Wir kommen an einem Kramladen vorbei. „Bazar Kirin“ heißt das Ding. Ich kann natürlich nicht widerstehen und gehe rein. Hier gibt es echt allen möglichen Kram, den man sich nur vorstellen kann. Bikinis, Strumpfhosen, Schmuck, Bastelkram, Haustierzubehör, Spielzeug, Kosmetik, Werkzeug, Elektrokram, Besteck, Geschirr und Kochutensilien… Kein Wunsch bleibt unerfüllt. Ich bin mir nach dem ersten Blick hinein sicher: Der Laden und ich, das ist Liebe auf den ersten Blick! Und hier finde ich auch sofort, was ich mir in den Kopf gesetzt habe. Einen kleinen Tischventilator, der mich nachts runterkühlt, ohne Tino zu nerven! 6€ für einen USB-betriebenen Ventilator, der mir einen Monat lang entspannteren Schlaf beschert? Finde ich fair!
Direkt neben dem Bazar Kirin finden wir „Super Dino“. Wohl DIE Supermarktkette hier. Wir sind unterwegs schon ein paar mal an solchen Läden vorbeigekommen. Dort wird sich erstmal mit ein bisschen was eingedeckt. Unter anderem finden wir hier 5-Minuten-Terrinen. Aber die heißen hier anders. „PASTA POT“ prangt drauf. Wir feiern das ziemlich. Tino macht ein Foto und verwendet das sogar als WhatsApp-Status. Außerdem eine kleine Kuriosität für Michi: 1-Liter-Bierflaschen. Aus Glas. Mit Schraubverschluss. Und der Preis erst! 80 Cent. 80!!! Ich feier das so sehr, dass ich direkt eine Flasche kaufe. Das muss probiert werden!
Paulaner Weiße und Heineken hätte es auch gegeben. Und ein paar Marken, die mir nichts sagen, die aber alle mal probiert werden. Hab ich zumindest beschlossen.
Außerdem finden wir Milch in Plastikflaschen, Kölln-Müsli, gepökelten Fisch an der Frischetheke, abgepacktes Toastbrot ohne Rand und UNMENGEN an Oliven. In Deutschland hat man in Kassennähe ja den wertvollen Kram: bestimmter Alkohol, Zigaretten, sowas.
Hier auch. Nur sind das nicht Alkohol und Zigaretten. Der ‚wertvolle Kram‘ hier sind Parfums und SCHOKOLADE! Wir haben sogar Milka-Schokolade gefunden. Einzeln in Hartplastik-Sicherungs-Kästen. In Deutschland habe ich höchstens mal DVD’s oder Computerspiele in diesen Kisten gesehen. Hier wird Schokolade reingesteckt … Abenteuerlich!
Wir verlassen den Supermarkt wieder und stromern weiter. Immer Richtung Strand. Unsere Blicke saugen alle Eindrücke auf, die wir kriegen können. Beschaffenheit des Bordsteins, Fahrverhalten von Bussen und Autos, Parksituation, Architektur, Elektronik, Kleidung und Verhalten der Menschen, Durchschnittliche Ladengröße, Abnutzungsspuren der Häuser. Es gibt so unglaublich viel zu sehen!
Als wir am Strand ankommen, muss ich kurz mit Tino diskutieren, bekomme ihn dann aber doch dazu, eben gleich und nicht erst später, wenn es kälter wäre, den Sand- und Wassercheck zu machen. Der Sand sieht relativ dunkel aus, was vermutlich an dem Anteil Vulkangestein darin liegt. Dennoch ist der Sand unglaublich weich und noch warm von der Sonne. Die Luft riecht nach Meer und Algen und wir müssen beide erst Mal die Augen schließen und das Gefühl genießen. Das Wasser ist erwartungsgemäß kalt, ist ja auch nackter Ozean vor uns. Dennoch ist die Temperatur erträglich und garantiert angenehm, wenn man vorher von der Sonne gebrutzelt wurde.
Wir beschließen, den Strand und die Promenade weiterzuwandern. Ich halte die ganze Zeit Ausschau nach einem Restaurant oder ähnlichem. Schließlich hab ich Hunger wie Sau! Aber Tino merkt das nicht. Es ist mittlerweile 20:30 Uhr und er schlägt immer noch vor, sich erst noch ein wenig umzusehen und dann später zu essen. Ich habe ihm wohl nicht mit Nachdruck klar gemacht, dass ich Hunger habe.
Als ihm das aufgeht, ist es schon zu spät. Ich quengele, knabbere an seiner Hand rum, ziehe einen Flunsch und nerve ihn. Mit allem, was ich habe. Ich erinnere ihn mit Nachdruck, dass er geschworen hat, mich nicht hungern zu lassen. Er weiß das eigentlich auch. Michi auf Hunger macht keinen Spaß. Aber jetzt ist es zu spät für ihn. Er zerrt mich durch die Gassen, sucht nach einem akzeptablen Laden und entschuldigt sich ein um’s andere Mal. Wohl in der irrsinnigen Hoffnung, ich würde dann erträglicher. Aber weit gefehlt, mein Herr! Ich habe Hunger und da kann er sich noch so oft entschuldigen: Satt werde ich davon auch nicht. Also stiefel ich halb belustigt, halb bockig hinter ihm her und sehe ihm dabei zu, wie er immer panischer nach Lebensmitteln für mich sucht. Er befürchtet wohl, dass ich mich demnächst in einen Gremlin verwandle.
Zu unser beider Glück entscheidet er sich dann für einen Italiener an der Promenade. Er meckert zwar noch was von Touri-Falle, aber ich ignoriere ihn. Ich hab Hunger, er ist Schuld und das hat er jetzt davon.
Das Essen war schlussendlich okay. Die Vorspeise – frisch hausgebackene Knoblauch-Brötchen und gebratene Schrimps in Knoblauch – war ein Gedicht! Leider hat uns beide die Hauptspeise dann ziemlich enttäuscht. Aber egal. Wir hatten eine tolle Aussicht auf den Sonnenuntergang über dem Meer, die uns beinahe entschädigt hat.
Ich denke, das gemeinsame Essen war auch der Moment, wo wir wieder zueinander gefunden haben. Wo alle Befindlichkeiten endlich aus der Welt waren und wir uns endlich wieder wie immer liebhaben konnten.
Das haben wir dann auch ausgenutzt, indem wir zusammen Richtung Unterkunft zurückgeschlendert sind. Müde, vollgefuttert, kaputt, aber glücklich mit der Welt. Keiner von uns beiden ist schon so richtig in der Situation angekommen, aber wir haben ja schließlich noch 4 Wochen, um das zu tun, oder?