Liebe alle: Willkommen zurück! Das Warten hat ein Ende, endlich geht es weiter. Unsere zwei Wochen "Quarantäne" in Deutschland sind schneller vergangenen als man gucken kann. Und dennoch hat es gereicht, um Tino zum Maulen zu bringen. Aber, lieber Tino, jetzt sind wir ja wieder unterwegs und alles ist gut!
Unser erster Stop ist meine Geburtsstadt: Sofia, die Hauptstadt von Bulgarien!
Es ist immer wieder ein kleines Erlebnis, her zu kommen. Schließlich bin ich hier geboren und habe in meiner Kindheit und Jugend beinahe jeden Sommer hier verbracht. Das weckt also immer reichlich Erinnerungen. Daran, wie ich mit Ilse Straßenhunde und ihre Welpen gefüttert habe. Daran, wie ich mein erstes Bier (als Minderjährige) bestellt und sogar bekommen habe. Daran, dass ich tatsächlich Mal von meiner Oma zum Ballett-Unterricht geschleift wurde. Ja, ICH. Frau 'Kriegt das Knie nicht Mal bis zur Brust' höchstpersönlich.
Ich mag es, von diesen Erinnerungen überrascht zu werden. Und auf die Art habe ich auch immer etwas zu erzählen.
Es ist jetzt auch nicht so, als würden Tino und mir die Gesprächsthemen ausgehen. Im Gegenteil. Das Anschweigen stellt bei uns eine seltene Rarität dar, die wir beide in solchen Momenten dann aber gerne auch auskosten. So an die 20 Minuten. Dann lässt man den anderen doch wieder an den eigenen Gedanken teilhaben. Und ja, meist unabhängig davon, ob besagter anderer das überhaupt hören will…
Tino und ich buchen ja gerne unsere Billigflüge. Easyjet und Ryanair sind da die besten Freunde, gerade wenn es um das Bereisen Europas geht. Wer fliegt nicht gerne für 50€ pro Nase hin und zurück in ein paradiesisches oder auch „nur“ sonstwie exotisches Erlebnis? Ich frage mich ja seit Jahren, wie diese Airlines sich eigentlich halten. Aber so lange sie es tun, werde ich nicht meckern. Und dazu gehören eben für mich auch alle „Unannehmlichkeiten“, die der günstige Preis so mit sich bringt: Reisen nur mit Handgepäck, Sitzplätze werden zugewiesen, es gibt kein inkludiertes Essen an Board und Einchecken kannste dich gefälligst selber, lieber Kunde. Außerdem sind wir ganz böse Umweltschweine. Aber hey: Boardkarten sind für mich mittlerweile ein Relikt aus rauer Vorzeit. Alles digital auf dem Handy zu haben, hat eben seine Vorzüge.
Sei es drum. Dieses Mal ist uns das Billigfliegen beinahe um die Ohren geflogen. Ich beginne von Vorne.
Tino: „Wollen wir dann nicht vielleicht mit den Rucksäcken reisen?“
Michi: „Aber die passen auf keinen Fall als Handgepäck. Müssten wir dann zubuchen.“
…
Michi: „Toll. Ich sehe gerade: Ryanair hat eh die Abmaße für’s Handgepäck geändert. Wir können nicht mehr mit unseren Koffern fliegen. Wir müssten eh was aufgeben. Die Packmaße hier reichen hinten und vorne nicht.“
Tino: „Rucksäckeeeeee!!!!!“
Michi durchsucht die App: „Hm. Also 10 kg für 20€ oder 20 kg für 40€.“
Tino: „Ey, unsere Rucksäcke passen zu zweit in einen Reisesack! Dann können wir auch nur ein Gepäck aufgeben!“
Michi guckt auf Reisesack: „Okay, dann 20 kg für 40€.“
Gebucht, getan. Beim Packen etwas später …
Tino: „Michiiiii? Mein Rucksack alleine wiegt schon 11 kg. Was machen wir denn jetzt?“
Michi: „Zuende packen. Schweres Zeug kommt in’s Handgepäck. Danach wiegen wir noch Mal und entscheiden neu!“
Michi & Tino: „Geil, es passt! Exakt 20 kg!!!“
Das war der Kurzabriss der Situation bis dahin. Soweit also alles gut gegangen. Naja. Bis …
Michi: „Ich checke uns jetzt ein, ja?“
Fünf Minuten später. Michi: „Na super… Sehr clever gelöst, Ryanair. Wirklich clever…“
Tino: „Was ist?“
Tja, was war los? Beim Check-In ohne Sitzplatzbuchung für teuer Geld wird einem ein Sitzplatz zugewiesen. Nun ist diesmal das passiert, wovor die Websites immer warnen. Allerdings ist uns das bis dahin tatsächlich noch nie passiert: Wir sitzen getrennt. An sich kein Staatsakt und für die 2 Stunden, in denen eh nur jeder auf sein Handy guckt durchaus machbar. Viel interessanter fand ich folgendes: Ich wurde auf einen der Plätze ganz vorne gesetzt. Viel Beinfreiheit, gleich als erstes draußen. Eben alles, wie man es sich wünscht. Tino wurde auf einen der Plätze sehr weit hinten gesetzt. Normaler Platz, Ausstiegsdauer okay.
Hätte ich mich nun zu ihm setzen wollen, hätte ich 4€ draufzahlen dürfen. Hätte er sich zu mir setzen wollen, hätte er 14€ draufzahlen müssen. Und hätten wir beide uns einen günstigen Platz irgendwo in der Mitte genommen, wären auch 3€ pro Nase weg gewesen.
Der Algorithmus von Ryanair hat es tatsächlich geschafft, uns in diese unangenehme Lage zu bringen. Entweder Geld hergeben und das Leid teilen, oder wir sitzen getrennt voneinander, wobei einer Premium sitzt und der Andere dumm und neidisch aus der Wäsche guckt. Was ein perfides System!
Wir haben uns im Zuge der Geldsparmaßnahmen natürlich dafür entschieden, es dabei zu belassen. Und der Flug ging dann auch problemlos vonstatten. Ich wurde vor Flugantritt nochmal umgesetzt. Mittig, vor den Notausstieg. Da saß vorher eine dreiköpfige Familie, deren Mama mit Krücken da saß und entsprechend den Notausstieg blockiert hätte. Als die Stewardess mich also fragte, ob ich meinen Platz mit Beinfreiheit gegen einen anderen Platz mit Beinfreiheit eintauschen wolle, war das absolut kein Problem für mich. Wäre es ja auch sonst nicht gewesen. Mit Krücken muss man sich nun wirklich nicht für ein paar Stunden in die engen Sitze quetschen.
Schlussendlich sind Tino und ich in Sofia gelandet. Zu unserem Glück konnten wir am Flughafen gleich etwas Geld wechseln. Ich hatte nämlich Sorge, dass die Wechselstube bereits geschlossen haben könnte. In Bulgarien gibt es noch einheimisches Geld, keinen Euro.
Dank Verspätung sind wir erst kurz vor Mitternacht gelandet. Das hatte leider auch zur Folge, dass wir uns echt beeilen mussten, um die Metro in die Stadt noch zu erwischen. Und vorher galt es noch die Rucksäcke aus ihrer Transportverpackung zu schälen und mit Hängen und Würgen (in Tino’s Fall) das Handgepäck mit hinein zu quetschen.
Die U-Bahnen hier sind relativ neu, modern und kostengünstig. Allerdings fahren sie nicht – wie Berliner gewohnt – die ganze Nacht. Sondern eben nur bis Mitternacht. Wer meinen WahtsApp-Status verfolgt hat, weiß aber, dass wir sie rechtzeitig bekommen haben. Von der Station mussten wir dann noch an die 15 Minuten zu unserer Unterkunft laufen. Dort angekommen, waren wir dann auch endgültig platt und fertig für’s Bettchen. Beim Einschlafen haben wir uns noch geeinigt, dass der erste Programmpunkt morgen früh eine Baniza sein wird.
„Baniza!“, flüstert es mich am nächsten Morgen enthusiastisch von der Seite an. Mein innerer Schweinehund guckt anklagend auf die Uhr und macht mir Nachdruck klar, dass es deutlich zu früh für mich ist, um sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Er rät mir professionell, Tino einfach den Finger zu zeigen und mich umzudrehen. In Berlin habe ich die letzten Wochen immer bis 9/10 Uhr um Bett gelegen. Jetzt ist es acht Uhr. Dank Zeitverschiebung ist es in Berlin erst 7 Uhr. Deutlich zu früh also, wenn ich meinem müden Hirn Glauben schenken darf. Allerdings hat Tino da ein echt unschlagbares Argument auf seiner Seite… Baniza. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr zieht dieses Argument auch meinen inneren Schweinehund auf Tinos Seite. Also quäle ich mich aus dem Bett, während mein Schweinehund schon randalierend unten auf der Straße steht und brüllt, dass ich meinen Arsch endlich bewegen soll. Der Gute hat echt Pfeffer im Hintern… Tino und ich schlurfen meinem Schweinhund hinterher. Ich gähne an die 50 Mal in den nächsten 20 Minuten. Aber gut. Schließlich gibt es Baniza. Wer kann da schon Nein sagen?! Mit besagtem Stück Backware ENDLICH ausgestattet, entschließt sich auch mein Gehirn, langsam hochzufahren. Tino und ich futtern und schlendern durch die Gegend und zählen die Straßenhunde, denen wir begegnen. Bis zum Ende des Tages werden es 6 Stück werden.
Nach einer kurzen, mehrstündigen Erkundungstour verschlägt es uns wieder nach Hause. Michi müde, Michi schlafen. Leider habe ich diese Rechnung ohne den Wirt gemacht. Tino will nämlich meine Hilfe. Er versteht nicht, warum sein Rucksack so voll ist.
Nach Durchsicht ist das Problem für mich schnell klar. Mein kleiner Depp hat für gefühlte 3 Monate gepackt. 18 Shirts, 19 Paar Socken, 21 Schlüpper und 6 Hosen. Ja, ne, ist klar?!
Ich frage ihn, ob er noch alle Latten am Zaun hat und gehe schlafen. Er sortiert derweil seine Sachen. Es gibt drei Stapel:
- Behalte ich.
- Kommt in die Altkleidersammlung
- Vera beknien, ob sie das BITTE, BITTE, BITTE wieder mit zurück nach Berlin nehmen kann.
Nein, Vera weiß noch nichts von dem Anschlag, den Tino da auf sie plant. Ich bin gespannt, wie es an der Front weitergeht.
Richtung Abend legen Tino und ich spontan nochmal einen Spaziergang ein. Dabei laufen wir ungeplant in eine Demonstration vor dem Parlament rein. Die Menschen wirken unzufrieden. Teils wütend. Eben so, wie man wohl drauf sein sollte, wenn man demonstrieren will. Tatsächlich gehen diese Demonstrationen hier ja auch in Deutschland regelmäßig durch die Presse. Hier vor uns stehen aber nicht sonderlich viele Menschen, was mich etwas verwirrt. Wenn ich schätzen müsste, würde ich auf 200 Leute tippen.
Tino kauft sich in seinem proeuropäischen Enthusiasmus eine Europa-Flagge. Etwas sarkastisch frage ich ihn, ob die auf einen neuen Stapel kommt, wenn kein Platz im Rucksack mehr ist: 4. Verbrennen? Er weiß meinen Witz angemessen zu würdigen und wir geraten in eine angeregte Diskussion über die Umsetzbarkeit eines „echten“ Europas. Am Rande spekulieren wir darüber, ob es wohl politische Absicht ist, dass diese Demo hier erst 21 Uhr stattfinden darf, wenn in den Regierungsgebäuden ringsum eh kein Schwein mehr arbeitet. Keine Ahnung, ob dem so ist, aber in jedem Fall hat es einen etwas bitteren Beigeschmack.
Und während wird da diskutieren und der protestierenden Menge zuschauen, ertönt im Zuge der patriotischen Ansprache plötzlich die bulgarische Nationalhymne aus den gigantischen Boxen. Alle, die bis dato saßen, springen auf und schauen andächtig auf die ramponierten Lautsprecher, während ich mit gemischten Gefühlen kämpfe.
Ich fühle mit. Mit diesen Menschen, die für ihr Recht kämpfen und protestieren. Die verzweifelt etwas wollen und diese Verzweiflung hier kundtun. Menschen, die sich von ihrer Regierung unverstanden fühlen, aber dennoch einen Nationalstolz empfinden, der keinen politischen Hintergrund hat. Ich verstehe diese Verzweiflung und der Kampfgeist beschert mir eine Gänsehaut. Aber gleichzeitig sehe ich mich als unbeteiligten Außenstehende. Ich habe damit nichts zu tun. Ich werde die Verzweiflung dieser Menschen nie wirklich nachempfinden können, da ich mich nicht als Teil ihrer Gesellschaft sehe oder verstehe. Ich spreche die Sprache, ja. Ich kenne die Kultur, das Essen, die Leute und das Land. Aber ich BIN in meinem Empfinden keine Bulgarin. Nicht so, dass ich die Probleme der Leute wirklich nachempfinden könnte.
Ich bin – am Ende des Tages – in meinem Empfinden eben doch nur eine privilegierte Deutsche, die hier ihrem Drang nach Tourismus fröhnt. Obwohl ich diese Entscheidung nie selbst getroffen habe. Diese Entscheidung haben mir meine Eltern abgenommen.
Und gleichzeitig bin ich in Deutschland die Halbbulgarin. Die Trulla mit der langen Nase, auf deren Kosten man Witze über Faulheit macht. Versteht mich nicht falsch, ich habe damit kein Problem. Aber wenn es in so krass kontroversen Situationen wie dieser Demonstration so knallhart aufeinandertrifft, bin ich plötzlich kein Kind zweier Welten mehr, sondern fühle mich viel mehr wie heimatlos. Dieses Gefühl hält so an die 3 Sekunden. Mehr ist es nicht. Aber es ist doch genug, um es mit nach Hause zu nehmen. Und ich kenne mich selbst gut genug, um zu wissen, dass dieser Gedanke mir die nächsten paar Tage noch ein paar Mal unterkommen wird.
Soooooo, das ist jetzt etwas arg in die Kategorie „Deep Shit“ abgerutscht. Das wollte ich gar nicht. Aber ich lasse das jetzt so. Ich glaube, in Ausnahmesituationen wie heute darf man das auch mal. Ihr kennt mich: Sonst mache ich sowas nicht. Ich halte es lieber locker-flockig und entspannt. Und keine Sorge, so wird es nächstes Mal auch wieder! Bis dahin!